Von der Grenze wollen wir zum Aralsee bzw. das, was von ihm übrig ist. Der westliche Teil des einstigen Aralsees erstreckt sich über Kasachstan und der autonomen Republik Karakalpakistan in Usbekistan. Traurigerweise ist die Fläche des Aralsees durch die Umleitung großer Wassermengen seit den 1960er Jahren dramatisch geschrumpft. Die Verlandung des Sees führt nicht nur zu einer zunehmenden Versalzung des Sees, sondern auch der umliegenden Region. Überall sehen wir eine weiße Schicht auf der Erde und wir fragen uns, wie hier überhaupt etwas wachsen kann. Die Salz- und Staubwüste um den Aralsee ist durch den hohen Einsatz an künstlichen Düngemitteln, Herbiziden, Pestiziden und anderen Schadstoffen hoch gesundheitsgefährdend. Der Salzstaub führt zu Atemwegs- und Augenerkrankungen. Wir bekommen dies ebenfalls zu spüren: wir beide, insbesondere Alex mit seinem Asthma, können schlecht atmen wegen des feinen Staubs und dem Salz in der Luft, ich habe Nasenbluten und uns brennen die Augen. Das alles spüren wir, als wir auf der A340 bei den Koordinaten 43.481882, 58.108989 nach links auf eine Piste abbiegen, die obigen Gründe dafür erfahren wir jedoch erst, als wir später darüber lesen. Die A340 ist seit der Grenze (und bereits schon 80 km vor der Grenze in Kasachstan) eine Zumutung, das heißt, wir haben bereits über 300 km extrem schlechte Straße hinter uns, aber die Piste zwingt uns jetzt sogar zu Schrittgeschwindigkeit. Wir folgen der weißen Linie auf maps.de bis zum südlichen Teil des Westlichen Aralsees. Eine braun gestrichelte Linie auf der Karte weist uns den Weg bis an die Abrisskante des Plateaus, vor der wir stehenbleiben und einen Blick auf den Rest des versalzenden Sees haben. Es sieht aus, als wären wir auf einem anderen Planeten. Im Grunde kann man einer Spur bis runter an den See folgen, aber der Blick von oben ist besser und wir haben keine Lust, am salzigen Ufer des Sees steckenzubleiben. So schön der Blick auch ist, wir bleiben nur eine Nacht.
Am nächsten Tag folgen wir der Piste nach Muynak, weil wir am Schiffsfriedhof vorbeifahren wollen. Dafür müssen wir vom Plateau hinunter in die Aralkum-Wüste. Ein Hinweisschild zeigt schließlich den Weg und wir folgen der schmalen Fahrspur hinunter in die salzige Wüste. Als wir der löchrigen Piste weiter folgen, stehen wir mitten in der Pampa plötzlich vor einem Wassergraben. Ich bremse und sage mit Blick darauf: „Ich fahr‘ da nicht durch!“ Mein Kopf sagt ganz klar „Stop!“, aber ich spreche meinen Gedanken nicht aus.
Alex guckt sich die Wasserdurchfahrt vom Beifahrersitz aus an, sieht viele Fahrspuren. LKWs sind duchgefahren und schließlich sind wir doch auch ein LKW, noch dazu ein 4×4. Er steigt aus und begutachtet das Wasserloch aus der Nähe, überlegt, guckt sich das Wasser an. Es ist extrem dreckig und wir haben keine Gummistiefel. Links oder rechts daran vorbeifahren können wir nicht, denn dort geht der Wasserkanal entlang. „Kein Problem.“ winkt Alex ab, als er wieder am Benz ist, „Da sind schon viele andere durchgefahren. Außerdem ist uns vorhin der Jeep entgegengekommen; der muss ja schließlich auch hier durchgefahren sein.“ Ich rutsche auf den Beifahrersitz: „Muss er nicht, der kann auch woanders langgefahren sein…“ Aber wozu jetzt einen Umweg fahren?
Alex sitzt jetzt hinterm Steuer. Entgegen seinem Vorsatz, IMMER erst vor einer Durchfahrt die Wassertiefe zu prüfen. Aber das Wasser ist dreckig, der Untergrund matschig, nichts, wo man gerne reingeht, wenn’s nicht unbeding sein muss. Alex legt beide Sperren rein und gibt Gas. Als wir mit der Vorderachse im Wasserloch sind, macht es plötzlich einem Satz nach unten und der Benz taucht ins Wasser. Ich schreie auf vor Schreck, denn das Wasser ist viel tiefer als erwartet. Es ist wie in den Videos, die man immer sieht. Nur dass in den besagten Videos die LKW auch wieder auftauchen und lässig weiterfahren. Wir nicht. Die Hinterachse schafft es nämlich nicht und so bleiben wir mitten im Wasserloch stecken. Alex versucht noch, vorwärts zu fahren, rückwärts zu fahren… kein Chance, der Benz bewegt sich nicht mehr. Die Räder sind voller Modder, greifen nicht. Außerdem ist die Hinterachse viel zu schwer. Alex flucht. Er guckt sich den See um uns herum an, aber man sieht ja in der Brühe nichts.

„Hilft ja nichts.“ sage ich. „Raus ins Wasser.“ Aber ich soll drin bleiben. Alex geht in das Modderwasser, er will es mit den Sandblechen versuchen: Alex schiebt sie unter die Hinterräder, ich gebe etwas Gas. Aber es bleibt nur beim Versuch, denn Alex bekommt die Bleche überhaupt nicht unter die Räder. Wir müssen schnell handeln, es wird nämlich langsam dunkel. Es ist bereits kurz nach 17 Uhr und der nächste Ort Muynak ist 60 km weit entfernt. Wir haben kein Netz und können noch nicht mal jemanden anrufen – wen auch? Also klettere ich durch unsere Notfalltür nach hinten in die Kabine mit Schräglage und Seeblick, packe für Alex einen Rucksack mit trockenen Klamotten, Schuhe, Stirnlampen mit Ersatzbatterien, Getränk und Kraftfutter. Ich würde gerne mitkommen, aber ich soll aufpassen, dass der Motor nicht ausgeht. Alex macht noch schnell zwei Fotos vom Benz, wirft mir einen Luftkuss zu, dann radelt er los. Es ist 17:20 Uhr.
Ich versuche zu lesen, aber ich habe keine Ruhe. 60 km, überlege ich, das bedeutet, Alex ist mindestens 6 Stunden unterwegs, um überhaupt ins nächste Dorf zu kommen, bei der Piste vielleicht länger, denn im Dunkeln kann man die unmöglich schnell fahren. Ich rechne aus, wann dann ein Abschleppwagen hier sein kann. Mir wird kalt bei dem Gedanken und ich kurble das Fenster hoch. Auf maps.me schaue ich, ob noch etwas Hilfreiches auf dem Weg liegen könnte und entdecke ERIELL auf dem Weg nach Muynak. Ich würde es ja gerne Alex simsen, aber ich habe kein Netz. Er wird aber ohnehin dort vorbeifahren und wenn wir Glück haben, ist dort jemand, der uns helfen kann…
10 km weiter, kurz vor 18 Uhr ist Alex bei ERIELL und fragt, ob jemand Englisch spreche. Da alle Mitarbeiter nur Usbekisch sprechen, zeigt Alex ein Foto von unserem Malheur. Damit ist klar, was los ist. Sie gehen gemeinsam zu einer Art Herbergszimmer, ein Mann wird extra geweckt. Er stellt sich als Renat vor. Renat spricht Englisch. Alex erklärt und zeigt noch mal Fotos. Zunächst will Renat gerne einen Bulldozer schicken, aber gerade sei keiner da, also sollen zwei LKWs geschickt werden, ein Kamaz und ein Ural. Beide LKWs sollen in einer Stunde da sein. Renat besteht darauf, dass Alex erstmal etwas isst und trinkt, weil sie ja nun ohnehin warten müssen. Er geht mit ihm die Mitarbeiterkantine und Alex bekommt eine heiße Suppe. Und währenddessen erzählt Renat: er sei Tatare, der in der Firma übersetzen würde, Englisch-Russisch. ERIELL sei eine südkoreanische Firma, deren tschechische Niederlassung aus Österreich hier nach Öl bohrt. Und er sei den letzten Tag in Usbekistan, morgen früh fliege er nach Hause. Haben wir ein Glück oder was?
Dann sind die LKWs da und machen sich auf den Weg. Ich sehe die Staubwolke schon von weitem am Horizont. Durch mein 300er Teleobjektiv verfolge ich den Trupp und bin froh, dass so schnell Hilfe kommt. Eine Übernachtung in der Schräglage wäre eine Herausforderung. Dann stehen sie vor mir: die zwei blauen LKWs, vier Männer und Alex. Das Fahrrad haben sie mit Draht einfach auf der Pritsche des Kamaz festgemacht. Es folgt eine kurze Beratung, was zu tun ist, während ich gespannt hinterm Steuer sitze.

Alex holt sein Abschleppseil und weil das dummerweise in eine der hintersten Boxen am Benz versteckt ist, die sich nun unter Wasser befindet, muss er die Box fluten, um an das Seil zu kommen. Der erste Versuch scheitert, als der Kamaz versucht, uns rückwärts aus dem Wasserloch zu ziehen; ich gebe etwas Gas; nichts passiert. Seine Räder mahlen sich langsam in den getrockneten Schlammboden. Es raucht und stinkt. Dann hängt sich der Ural hinter den Kamaz, beide ziehen, ich gebe leicht Gas, wieder passiert nichts. In diesem Moment haben wir beide ein mulmiges Gefühl in der Magengegend: Kommen wir hier überhaupt wieder raus?

Dann dreht sich der Kamaz um und will uns vorwärts zusammen mit dem Ural rausziehen. Und das geht. Es gibt einen Ruck und ein reißendes Geräusch und noch bevor der Benz draußen ist, reißt und verbiegt sich die Bergevorrichtung an unserem Benz, als er über ein Hindernis im Wasser gezogen wird. Der Aufbau bäumt sich auf und wir können nun erkennen, weshalb wir es niemals allein geschafft hätten. Selbst wenn wir eine Winde gehabt hätten und sie hätten benutzen können (es gibt keinen Baum weit und breit und ein 120kg schweres Rad von dem Benz durch den 1m tiefen Wasser/Matsch zu rollen und dann als Anker in dem steinharten Boden einzugraben – tolle Theorie, aber keine Chance), hätte die Winde das nicht ausgehalten und uns womöglich noch mehr am Benz kaputt gemacht. Wir können jedoch noch rausgezogen werden und stehen auf gerader Fläche im Trockenen. Gerettet!
Wir sind so erleichtert und bedanken uns überschwänglich bei jedem. Alex umarmt herzlich den Chef der Truppe. Fotos werden von allen gemacht. Dann will Alex wissen, was sie bekommen. Aber der Chef sagt: Nein. Alex möchte aber unbedingt etwas geben, denn ohne sie wären wir niemals rausgekommen, aber der Chef lehnt kategorisch ab, klappt Alex Portemonnaie entschieden zu. Er will definitiv nichts dafür haben. Wir seien ihnen nichts schuldig; für sie wäre das ein Spaß gewesen, Ehrensache. Sie verschwinden winkend – wir sind begeistert von und unendlich dankbar über dieser Hilfsbereitschaft.

Jetzt begutachten wir den Schaden: die Front sieht nicht gut aus, das müssen wir in einer Werkstatt wieder ordentlich schweißen lassen. Das Abblendlicht auf der Beifahrerseite strahlt in die falsche Richtung. Am meisten sorgt sich Alex um die Differentiale, den Motor und die Getriebe: ist Wasser ins Öl gekommen? Immerhin standen wir drei Stunden, bis zu einem Meter tief, im Wasser. Wir müssen also schnellstmöglich die Öle prüfen und ggf. tauschen lassen. Wir machen alle Klappen auf: das Wasser fließt aus den Staukästen heraus, hat sich im Boden der Kästen gesammelt. Wir müssen das unbedingt trocken bekommen, aber jetzt ist es schon spät und so fahren wir nur wenige Kilometer weiter bis wir einen ebenen Platz finden zum Übernachten.
Am nächsten Morgen dann der Schock als wir alles aus den Staukästen rausräumen: Das ganze Werkzeug ist über Nacht verrostet; unser gesamtes Akku-betriebenes BOSCH-Equipment total kaputt. Wir haben zwar das Wasser nicht gekostet, können aber wohl davon ausgehen, dass es salzhaltig war. Und unsere BAWER-Stauboxen werden zwar als „wasserdicht“ verkauft, sind aber wohl nicht für ein Vollbad gedacht. Wir verteilen alles auf Planen auf dem Boden und versuchen zu retten, was zu retten geht; vor allem alles andere Werkzeug. Wir trocknen, säubern, ölen – ausgerechnet in der salzigen Staubwüste, wo es jetzt auch noch windig ist.

Notfalls kaufen wir das neu; viel wichtiger ist, dass wir aus diesem Loch raus sind. Als nächstes müssen wir auf jeden Fall in eine Werkstatt, um zumindest die Öle checken zu lassen….