Wir fahren aus Aqtau raus und wollen uns einen Stellplatz für die Nacht am Kaspischen Meer suchen. Alex tippt auf Maps.me und entscheidet sich spontan für eine Straße, ca. 80km nördlich von Aqtau, die Richtung Meer führt, während ich den Benz durch die Kasachische Steppe lenke. Als wir dort sind, fahren wir durch einen verlassenen Ort, an dem früher russische Fischer gelebt haben, wie wir später erfahren. Die Häuser sind zerstört, nur zwei Häuser scheinen noch bewohnbar, dort steht jeweils ein Auto davor.
Wir befahren den Strand, wollen zum Sonnenuntergang direkt am Wasser stehen und bleiben stecken. Bis zum Differential hängen wir drin. „Komisch,“ sage ich, „selbst in den Wüsten sind wir super durchgekommen und da war der Sand noch feiner.“ Wir stecken so tief drin, dass Alex erst mal ein Bier darauf trinkt, bevor er anfängt zu buddeln. Als Alex schaufelt und ich ihn dabei anfeuere, umfliegt uns plötzlich eine schwarze Drohne. Eine Drohne in Kasachstan ist so das letzte, womit ich gerechnet habe. Wir wissen nicht so richtig, was wir davon halten sollen, also winken wir einfach in die Kamera. Sie umkreist uns noch ein paar Mal, dann ist sie wieder weg. Ich sage zu Alex: „Ich weiß jetzt nicht, was mir lieber ist: wenn die Leute direkt zu uns kommen und vorm Auto stehen, oder eine Drohne schicken.“
Nach dem zweiten Bier übernehme ich und buddle den Rest frei, ebne zwischen den Rädern. Ich habe hinterher drei Blasen an den Händen – nix mehr gewohnt. Plötzlich kommt ein Fahrzeug auf uns zu, bei dem ein Mann in Armeekleidung außen auf dem Trittbrett des Jeeps steht. Zwei Männer und zwei Frauen stehen schließlich vor uns und begutachten die Buddelaktion. Sie bezweifeln, dass wir es rausschaffen und schließen Wetten ab. Da wir trotz Luftablassens auf dem Weg zum Strand (2,5 Bar hinten und 2 Bar) vorne steckengeblieben sind, lässt Alex noch mehr Luft ab: hinten auf 1,5 Bar, vorne auf 1 Bar. Gewagt. Aber Alex befreit den Benz aus dem Sand. Der Strand ist tückisch: das Wasser des Kaspischen Meers lagert Schicht um Schicht am Strand ab, weshalb der Sand so weich ist und man immer tiefer einsackt.
Die vier fragen, ob wir Lust hätten, mit zu ihrem Camp zu kommen und dort zu essen und Vodka zu trinken. Sie hätten massenhaft Essen dabei und wir seien herzlich willkommen. Sie sind uns sympathisch, also folgen wir dem Jeep, nachdem Alex den Luftdruck der Reifen wieder erhöht hat. Wir bleiben im respektvollen Abstand zum Strand stehen und gehen zu Fuß zu ihrem Camp. Sie haben einen Pavillon aufgebaut, darunter eine kleine Festtafel mit allerlei Essen. Viel zu viel, selbst für sechs Personen. Verschiedene Salate, Brot, Hühnchen… und jede Menge Vodka.
Die beiden Frauen heißen beide Olga, der eine Mann Slava und der, der Englisch spricht heißt Anton oder Anthony, so genau will er sich selber nicht festlegen. Es fließt immer mehr Vodka, vor allem bei unseren Gastgebern. Anton sagt, das sei nur 38%iger Wodka und deshalb kein Problem. Olga Nr. 2 verschwindet mit Slava, sie bereiten noch mehr Essen zu, Schaschlik. Ob sie noch weitere Gäste erwarten würden, fragen wir. Sie lachen. Und schließlich haben wir viel zu viel Essen auf dem Tisch. Währenddessen kippt Anton immer wieder fröhlich Vodka nach. Olga Nr. 1 ist bereits ziemlich „beVODKAt“. Geradeauslaufen fällt ihr inzwischen schwer, das Sitzen auf dem Stuhl aber auch. Sie bewegt sich auf ihrem Stuhl extatisch zur russischen Musik, während wir uns mit Anton unterhalten. Plötzlich steckt sie ihm die Füße ins Gesicht. Wir sind verwirrt: ist sie nicht mit Slava zusammen? Da fällt uns auf, dass Slava und Olga Nr. 2 die ganze Zeit verschwunden sind. Irgendwann tauchen Olga Nr. 2 und Slava mit dem zweiten Rost (!!!) voller Schaschlik-Spieße wieder auf. Sehen wir verhungert aus? Wir sind die einzigen, die immer wieder eine Kleinigkeit essen, wozu diese Mengen? Anscheinend geht es nur ums Grillen und nicht unbedingt darum, alles aufzuessen. Jetzt sind endlich wieder alle vollzählig. Olga Nr. 1 tanzt jetzt auf ihrem Stuhl sitzend sehr gefühlvoll zur Musik. Plötzlich fängt sie an zu weinen. Hemmungslos. Sie schluchzt, Tränen kullern. Was ist denn nun los? Beide Männer trösten Olga, besonders Slava. Wie jetzt? Anton erklärt uns, dass Olgas Mutter vor 15 Jahren gestorben sei und deshalb trauere sie jetzt. Was der Auslöser war (das russische Lied oder ein Gedanke) wissen wir nicht. Nach 5 Liedern ist die Traurigkeit genauso plötzlich verflogen wie sie gekommen ist und Olga tanzt wieder mit einem merkwürdigen Lächeln lasziv auf ihrem Stuhl.
Während dessen hat Anton angefangen, eine Suppe zu kochen. Uns wird mulmig; wir können unmöglich noch mehr essen. Ins heiße Wasser kommt eine Flüssigkeit aus einem kleinen Colafläschchen. Ich sehe Fettaugen schwimmen und vermute, dass Öl umgefüllt wurde. Dann verschiedene Nudelsorten, Kartoffeln, Dosenfleisch und eine Gewürz/Kräutermischung. Als die Suppe fertig ist, bekommen Alex und ich jeweils ein Schälchen mit Suppe, obwohl wir glaubhaft versichern, dass wir keinen Hunger mehr haben und unmöglich noch mehr essen können. Anton und Olga Nr. 2 erklären uns, dass die Suppe gut sei und man mit dieser Suppe keinen Kater vom vielen Vodka bekäme. Wir sollen essen. Olga Nr. 2 rückt ganz nah an Alex heran und drängt ihn, die Suppe zu essen. Los, los! „Dawai.“ Das macht Alex skeptisch: Warum isst sonst keiner von der Suppe? Alex sagt, er sei satt. Ich löffle ein bisschen und beobachte die anderen. Für Olga Nr. 1 wird ebenfalls Suppe in ein Schälchen getan, aber das Füttern klappt nicht so gut, essen ist gerade nicht so wichtig. Auch Anton setzt ein paar Mal zum Essen an, isst aber nichts. Wir beobachten argwöhnisch die Situation. „Warum isst niemand von der Suppe?“ fragt mich Alex flüsternd. Ich zucke mit den Schultern. Ich stelle mein Schälchen ab, ich bin ohnehin satt. Kurz darauf sind alle auf einmal verschwunden. Die beiden Olgas, Slava und Anton sind hinterm Zelt und machen irgendwas. „Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt, zu verschwinden!“ schlägt Alex vor. Mir passt das ganz gut, denn es ist schon weit nach Mitternacht. Und so verabschieden wir uns. Als Alex aufsteht, bekommt er den 38%igen Vodka deutlich zu spüren. Wir schlafen wunderbar fest in der Nacht und wachen erst spät ohne Kater auf.
Gerade als wir frühstücken, fahren die vier an uns vorbei. Wir machen schnell die Tür auf, um uns wenigstens zu verabschieden. Dann sind sie auch schon weg.
Wir gehen noch in den Saura Canyon, von dem Anton erzählt hat, beobachten Sumpfschildkröten und sind dabei von scheinbar tausenden Schlangen umgeben. Es zischt und raschelt um uns herum. Gruselig. Außerdem kann man einige halbdomestizierte Wildpferde sehen und, was wesentlich süßer ist, die kleinen Nagetiere der Kasachischen Steppe beobachten, wie sie Grünzeug sammeln und hastig in sich reinstopfen.
Am nächsten Tag verlassen wir den Strand und bewegen uns weiter Richtung Norden auf der P-115.