Kletterern muss man gar nicht viel über die Aguglia sagen: wer bereits da war bekommt glänzende Augen. Die, die noch nicht da waren, aber nach Sardinien wollen, haben die Aguglia auf ihrer Liste. Es ist ein heißbegehrter Ort für Kletterer. Außerdem ist die Cala Goloritzé, die wir ja einige Tage zuvor vom Boot aus schon gesehen haben, auch ganz hübsch. Bereits um 9:00 Uhr gehen die ersten Wanderer los. Wir frühstücken noch und machen uns etwas später auf den Weg. Nach einer Stunde über eine Geröllpiste, bei der man echt aufpassen muss, dass man sich nicht den Fuß verknackst, geht es relativ steil bergab Richtung Strand. Zu dem Zeitpunkt machen wir uns noch keine Gedanken darüber, dass wir da wieder hoch müssen. Wir stehen vor der Aguglia.


Es sind bereits mehrere Seilschaften oben. Eine kommt gerade wieder herunter. Wir fragen die Jungs, wo sie hoch sind. Sie haben den mittelschwere Weg gewählt Es gibt drei Routen: leicht, mittel und schwer, wobei die leichte gemäß unserem Kletterführer auch schon aus 6a, 6b/c, 6b, 6a und 5c besteht. Also auch jetzt nicht soooo einfach. Irgendwie hab ich Schiss. Alex beruhigt mich und versichert mir, dass wir jederzeit umkehren können. Ich muss mich mental darauf vorbereiten, also essen wir erst mal einen Apfel. Die Jungs machen uns darauf aufmerksam, dass man die Rucksäcke nach oben packen soll wegen der Wildschweine. Die kämen wohl gerne mal vorbei, um sich dem Inhalt der Rucksäcke zu widmen. Gut zu wissen. Mich stört ein bisschen, dass man an der Aguglia quasi Schlange steht. Denn gerade als wir unsere Äpfel essen, steht plötzlich ein italienisches Pärchen neben uns und klettert los. Als das Pärchen die erste Seillänge überwunden hat, schmeißen wir unseren Rucksack auf einen Baum und machen uns fertig. Da kommt ein älteres Ehepaar aus Aalen, Thomas und Ina, dazu und will die dieselbe Route hoch wie wir. Mir wird mulmig, weil das mit dem Umkehren ja nun immer schwieriger wird. Blamieren will man sich ja auch nicht. Thomas klettert seit 40 Jahren und ist tiefenentspannt. Immer wenn ich am Stand stehe, um Alex beim Vorstieg zu sichern, steht er neben mir und sichert seine Frau für die Route unter uns. Auch, wenn Thomas unheimlich nett ist, fühlt man sich immer ein bisschen gehetzt, wenn einer direkt hinterhersteigt. Das ist etwas schade. Plötzlich sind dicke dunkelgraue Wolken über uns. Der Wind steht ungünstig. Als Alex und ich in der 3. Seillänge sind, blitzt es etwas entfernt links von uns, aber immer noch nahe genug. Wir klettern erst mal weiter.
Erste Regentropfen. Thomas und Ina drehen um, weil Ina im Regen nicht klettert. Ich befürchte, dass auch Alex umdrehen will. Das wäre ärgerlich, weil ich die gefürchtete 6b/c bereits hinter mir habe und wir sicherlich nicht noch einen Tag hier verbringen werden. Andererseits ist die 140m hohe Felsnadel an der Küste bei Gewitter nicht ungefährlich. Alex und ich klettern schnell die 6a und die 5c. Zwischenzeitlich hat es sich wieder etwas beruhigt, aber das ungute Gefühl bleibt die ganze Zeit: hält das Wetter einigermaßen oder fängt es gleich richtig an zu schütten? Aus den Wolken lässt sich nicht lesen. Schließlich stehen wir oben auf 140m Höhe, auf der kleinen schmalen Spitze der Aguglia, auf deren obersten Stand wir gerade so Platz haben. Wir setzen uns auf die Spitze und genießen den tollsten Ausblick, den man in 140m Höhe haben kann: über die Ostküste Sardiniens bis nach Cala Gonone.


Es fängt wieder an zu regnen. Alex bereitet das Abseilen vor. Die nächste Überwindung für mich: Abseilen in 140m Höhe. Wenn man nur überschaubare 35 m gewohnt ist, wird einem ganz schwummerig, guckt man die 140m nach unten. Ich überprüfe zigmal, ob ich mich richtig eingebunden habe; dann geht es los mit zittrigen Händen und Kitzeln im Bauch. Glücklicherweise regnet es nur leicht und während des Abseilens schickt uns der Himmel sogar einige Sonnenstrahlen.
Ich bin erleichtert als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Ich habe mich etwas beim Abseilen verkrampft; meine linke Hand, die die Prusikschlinge um das Seil gedrückt hat, tut weh. Nach drei Abseillängen haben wir es geschafft. Erst jetzt kann ich so richtig Freude zeigen. Alex gratuliert uns beiden zum gelungenen Projekt „Aguglia“. Wir sehen, dass Thomas und Ina unsere Wanderschuhe an die Wand gestellt haben, damit sie nicht nass werden. Das ist richtig lieb! Wir packen alles ein und gehen zum Strand. Normalerweise kostet der Eintritt zur Bucht 1 € Eintritt, aber in der Nebensaison interessiert das niemanden. Und selbst für 1 € lohnt es sich. Es fängt wieder an zu tröpfeln. Wir ziehen uns schnell um und springen ins klare Wasser. Die Bucht ist unheimlich hübsch: ein paar Sonnenstrahlen zeigen uns trotz Regens kurz, wie schön das kristallklare Wasser und der weiße Kieselstrand aussehen.
Dann werden die Regentropfen größer. Nur noch ganz wenige Menschen sind am Strand. Wir ziehen uns wieder die Wanderklamotten an und machen uns auf den Rückweg. Es fängt richtig schlimm an zu regnen und die steile Passage auf dem Wanderweg kommt weserntlich länger vor als auf dem Hinweg. Klatschnass kommen wir im WoMo an. Wir haben unheimlich viel Glück gehabt!!!
Wir verlassen den Parkplatz und fahren noch bis zur Grotta de Ispingoli.